31.03.2016

Qigong - Meditation in Bewegung

Artikel unserer Ausbilder Gudrun und Roland Brandstetter

Erschienen in der Ausgabe März 3/2016 der Zeitschrift Natur & Heilen.

Meditation in Bewegung

Qigong ist eine sehr alte Bewegungskunst aus China, deren Ursprünge etwa 7000 Jahre zurückliegen. Entstanden ist Qigong wohl aus einer Form des rituellen Tanzes, denn schon damals entdeckte man, dass der Tanz eine therapeutische Wirkung auf den Menschen besitzt. Die Tradition des Qigong hat sich in seinen vielfältigen Übungsformen in Deutschland etabliert und beginnt, als vorbeugende Gesundheitspflege ein ernstzunehmender Bestandteil unseres Gesundheitssystems zu werden!

Die Qigong-Bewegungen wurden nicht selten aus der Beobachtung der Natur heraus entwickelt. Auf Bronzegefäßen der Shang-Dynastie beispielsweise sind Abbildungen von Menschen zu sehen, die Bewegungsübungen ausführen, die sich vorwiegend an Tierbewegungen orientieren und diese nachahmen. Die Shang-Dynastie (18. bis 11. Jahrhundert v. Chr.) wird traditionell als die zweite Dynastie der chinesischen Geschichte angesehen. Als erstes Herrscherhaus hinterließ diese Dynastie zeitgenössische Dokumentationen ihrer Kultur für die Nachwelt.
Dem legendären gelben Kaiser (ca. 3000 v. Chr.) wird eine bedeutsame Rolle in der Tradition des Qigong zugeschrieben, denn er soll körperlich-geistige Übungen für das Wohlbefinden und die Gesunderhaltung des Menschen entwickelt haben. Die Techniken werden im Klassiker erwähnt, dem ältesten, noch heute existierenden medizinischen Buch in China, im „Hunag Di Nei Jing“ (475-221 v. Chr.). Daraus haben sich im Laufe der Jahrhunderte unter dem Einfluss verschiedener philosophischer Strömungen Tausende von Übungen entwickelt. So stammt aus der Zeit der Han-Dynastie (206 v. bis 220 n. Chr.) aus einem Grabfund ein Seidentuch, auf dem Menschen abgebildet sind, die vorwiegend Tierbewegungen nachahmen.
In dieser Zeitepoche wurde auch die heute noch vielfach praktizierte Übungsfolge „Das Spiel der fünf Tiere“ entwickelt.

Eingebettet in die traditionelle chinesische Medizin

Das Qigong ist einer der fünf grundlegenden Pfeiler der traditionellen chinesischen Medizin. Die TCM umfasst als ein wichtiger Teil der chinesischen Kultur ein System von Diagnose- und Behandlungsformen, das sich in den letzten 2000 Jahren immer weiter entwickelt hat. Im Sinne der Vorsorgemedizin will sie die grundsätzlichen Zusammenhänge im Organismus verstehen und die Eigenregulation des Körpers aktivieren.
Das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang, Den beiden Polaritäten in der Welt, herzustellen, ist das oberste Ziel der TCM. Die Art der Lebensführung, d.h., wie wir mit unserer Ernährung, der Bewegung, dem Schlaf, dem Atem, dem tagtäglichen Stresspegel oder stark belastenden Emotionen umgehen, aber auch der Einfluss von Umweltfaktoren sind wichtige Indikatoren dafür, wie gut wir in der Balance sind.

Die TCM versucht also nicht, einen einzelnen krank machenden Faktor zu isolieren und dagegen anzugehen, sondern sie will den Menschen als Ganzes darin unterstützen, wieder in die eigene innere Harmonie zu gelangen und die Selbstheilungskräfte im Körper anzuregen. Im Qigong wird die Lebensenergie "Qi" im Körper bewusst wahrgenommen und durch verschiedene Übungen (mit dem Begriff "Gong" wird die Praxis beschrieben) durch den Körper geleitet.
Auch Aspekte der Kampfkunst und der Meditation fließen  in diese Bewegungskunst mit ein, die in der ursprünglichen Bedeutung "Übungen zur Pflege und zur Erhaltung der Lebenskraft" genannt wurde.

Bewegung-Atem-Vorstellungskraft

Der Begriff Qigong entstand erst in jüngerer Vergangenheit und fasst die Vielfalt der Bewegungsformen zu einer Begrifflichkeit zusammen. Es gibt tatsächlich eine Vielzahl von Schulen und eine noch größere Anzahl von Qigong-Übungen. Bei allen Übungen steht die aufeinander abgestimmte Beziehung von Bewegung und Ruhe im Vordergrund. Mit langsamen und geschmeidigen Bewegungen werden die Qigong-Übungen so ausgeführt, als ob man mit den Händen leicht durch das Wasser gleitet. Dabei fließt der Atem frei und natürlich. Über unsere Vorstellungskraft wird der Fluss des Qi angeregt und fließt dabei durch die zwölf Hauptmeridiane.

So können sich Blockaden in diesem Meridiansystem lösen, und unser Körper wird wieder vollständig mit Lebensenergie versorgt. Die drei Aspekte der Bewegung, des Atems und der Vorstellungskraft geben den Qigong-Übungen ihren eigenen unverwechselbaren Charakter. Qigong üben soll Freude bereiten. Leistungsdruck und ein "gutes Üben wollen" sind eher hinderlich und führen zu einer inneren Verspannung.

Die Haltung im Qigong darf sich selbst gegenüber wohlwollend sein, neugierig gegenüber dem, was durch die Übung erfahren werden kann. In der Qigong-Praxis wird der Körperwahrnehmung und dem Spüren von inneren Prozessen viel Raum gegeben. Veränderungen im körperlichen und seelischen Empfinden werden dabei als positive Auswirkungen verstanden.

Aufgerichtet zwischen Himmel und Erde

Im Qigong ist der Qigong-Stand ein zentraler Ausgangspunkt für das Üben. Durch das Stehen richten wir uns aus: wir spüren die Füße die Verbundenheit mit der Erde und richten unseren Körper auf, um sinnbildlich mit dem Scheitel, dem höchsten Punkt des Kopfes, den "Himmel zu berühren". Das Stehen zentriert uns, und mit dem Spüren in die Körpermitte hinein geht unsere Aufmerksamkeit nach innen.
Die Füße sind parallel zueinander ausgerichtet, sie stehen hüft- oder schulterbreit. Die Knie sind gelöst, der Körper aufgerichtet. Die Schultern sind locker, die Arme entspannt. Durch das Lockern in den Knien sind diese Gelenke durchlässig für die Bewegung und eine Entspannung der Hüftgelenke geht damit einher. Die Gelöstheit der Knie unterstützt die Aufrichtung des Beckens.

Dadurch wird der untere Rückenbereich (Kreuzbein und Lendenwirbelpartie) begradigt, was den Energiedurchfluss erleichtert. Dieser Vorgang ist wie ein "sich Hinsetzen im Stehen", ohne dabei in ein Hohlkreuz zu kommen. Die Vorstellung von Weite und dem Bild eines "langen Rückenbereichs" unterstützt das Lösen in diesem Teil der Wirbelsäule. Diese am Anfang vielleicht ungewohnte Art des Stehens wird durch wiederholte Übung immer vertrauter. 

Durch das Stehen richten wir uns aus:
wir spüren über die Füße die Verbundenheit mit der Erde
und richten unseren Körper auf,
um sinnbildlich mit dem Scheitel,
dem höchsten Punkt des Kopfes,
den "Himmel zu berühren".

Drei Phasen bei jeder Qigong Übung

Das Üben im Qigong vollzieht sich im Wesentlichen in drei Phasen: die Vorbereitung, das eigentliche Üben und der Abschluss. Mit der Vorbereitung sind die Einstimmung und der Eintritt in eine Entspannung gemeint, die für den Übungsverlauf wichtig sind. Beim Üben von Qigong wird die Lebenskraft Qi aufgenommen und bewegt, was eine Stärkung der Lebensenergie mit sich bringt. Zum Abschluss der Übung geht es um das Einsammeln des Erarbeiteten und um das Bewahren des neu aufgenommenen Qi.

Am Anfang ist es wichtig - wie ist in China heißt - "in die Ruhe einzutreten", und den Körper entspannen zu können, sich zu lockern, Geräusche aus der Umgebung oder eigene Gedanken zwar wahrzunehmen, jedoch in der Vorstellung, sie wie Wolken am Himmel vorüberziehen zu lassen, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken.  Mit fortschreitender Übung richtet sich die eigene Aufmerksamkeit mehr und mehr nach innen zur Körpermitte hin, dem so genannten "unteren Dantien". Das untere Dantien, dessen Lage ungefähr 2-3 Finger breit unterhalb des Nabels beschrieben wird, kann ich hier als ein Raum verstanden werden, der sich in den Bauchraum hinein öffnet, in dem wir Verbindung zu unserer eigenen Mitte aufnehmen.

Um die Verbundenheit und den Kontakt zur Erde gut zu spüren, kann es hilfreich sein, die Zehen zu Beginn leicht in den Boden zu krallen. Mit einem Wohlwollen sich selbst gegenüber lässt man den Atem leicht, natürlich und ohne willentliche Anstrengung ein- und ausströmen. Dann werden die eigentlichen Qigong-Übungen ausgeführt. Die Abschlussübung beschreibt das Einsammeln des Qi. In China sagt man, dass das Üben fruchtlos bleibt, wenn das Einsammeln des Qi - die Ernte - nicht erfolgt. Das untere Dantien ist einem Energiespeicher vergleichbar. Mit einer einsammelnden Bewegung vor dem Bauchbereich und dem Übereinanderlegen beider Handherzen auf den Bauch wird die Aufmerksamkeit in die Körpermitte geführt und der Übung nachgespürt.

Innere Ruhe finden durch fließende Bewegung

Qigong ist eine Form von Meditation in Bewegung. Durch die sanften und achtsam ausgeführten Bewegungen verlangsamen sich die Gehirnströme. Dadurch können wir einerseits in unser Inneres eintauchen, und die verlangsamten Gehirnströme im Alpha- und Theta-Zustand regen gleichzeitig unser Immunsystem an.

Die besondere Art und Weise des Stehens und sanften Bewegens beeinflusst positiv den Durchfluss des Qi in unserem Meridiansystem, den Energieleitbahnen, die parallel zu unserem Blut- und Nervenbahnen durch den ganzen Körper verlaufen. Der Atem fließt mit der Zeit tiefer in den Bauch hinein und fördert dadurch ein bewussteres und freies Atmen. Qigong-Übungen können dazu verhelfen, die eigene Körperwahrnehmung zu sensibilisieren und Muskelverspannungen und damit auch Spannungsschmerzen im Körper zu lösen. Die Beweglichkeit des Körpers erhöht sich.

Innere Ruhe, mehr Gelassenheit und Wohlempfinden im Alltag, auch die Verbesserung der Schlafqualität sind mögliche Auswirkungen durch regelmäßiges Üben. In belastenden Situationen, wie Prüfungsstress und in Krisenzeiten, kann durch das Üben von Qigong ein größeres Selbstvertrauen und mehr Zuversicht entwickelt werden.

Für alle Altersgruppen

Qigong wird sowohl vorbeugend wie auch im therapeutischen Bereich bei verschiedenen Krankheiten eingesetzt. Die Vielfalt an Qigong-Übungen bietet für alle Altersgruppen Möglichkeiten. Körperliche Einschränkungen sind dabei kein Hindernis, das Üben im Stehen wie im Sitzen hat eine gleichwertige Qualität. Qigong kann sogar im liegen in der Vorstellung geübt werden, so können auch schwerkranke Menschen davon profitieren.

Die Übungen können den Bedürfnissen von einzelnen Menschen verschiedene Altersgruppen - von Kind an bis ins hohe Alter - angepasst werden. Es gibt auch Projekte für Kinder im Schulbereich, die durch die Anwendung von Qigong in ihrem Lern- und Leistungsverhalten eine wertvolle Unterstützung erhalten, um mit dem oft anstrengenden Schulalltag besser umgehen zu können. 

Qigong als Weg verstehen lernen

Qigong kann mit der Zeit nicht nur den Alltag verändern, sondern auch in Krisenzeiten Unterstützung und Ausrichtung geben. Es sind weder Expertenwissen noch besondere Fähigkeiten notwendig, um Qigong auszuüben. Die Neugierde und Freude im Praktizieren eröffnet neue Horizonte, es kann so zu einem persönlichen Lebensweg werden. In diesem Sinne ist der Weg das Ziel.

Ob dieser geradlinig oder mit Umwegen stattfindet, ist sehr individuell, Lebenswege sind nicht miteinander vergleichbar. Sie sind so zahlreich, wie es Sterne im Universum gibt. Selbst wenn Zeiten kommen, in denen nicht geübt wird oder geübt werden kann, ist es wichtig, anschließend das Üben wieder aufzugreifen. Der Körper vergisst nichts, und so ist auch ein Neuanfang nur ein weiterer Schritt auf dem persönlichen Übungsweg. "Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt" - dieses chinesische Sprichwort lädt uns ein, den ersten Schritt einfach zu tun.

Gudrun Brandstetter/Roland Brandstetter

Qigong-Lehrer/in und -Ausbilder/in der DEUTSCHEN QIGONG GESELLSCHAFT e.V. in München