10.03.2000

Musik und Qigong - lockeres Spiel durch entspanntes Sein

Qigong als Verfahren der ‘Traditionellen chinesischen Medizin’
Qigong in der instrumentalen Praxis
      Atem und musikalische Gestaltung
      Streßprävention
      muskuläre Spannungen und Spieltechnik
      physische Belastungen durch die Spielhaltung
Wu Wei - Tun durch Nicht-tun
Schlußbemerkung

Wenn es um Musik und Instrumentalspiel geht, stehen im allgemeinen die Musik, das konkrete Werk, die Interpretation und Gestaltung durch den ausführenden Musiker im Zentrum der Betrachtungen. Daß dieses ‘Produkt’Musik aber Endergebnis der Arbeit eines Menschen in seiner Gesamtheit ist - also geistig-seelische und physische ‘Anstrengung’ bedeutet, wird oft übergangen.

Für Zuhörer und Kritiker mag dies angehen, denn beide sind nur an dem Endprodukt interessiert. Als Musiker, und damit als direkt von den Konsequenzen dieser Tatsache Betroffene, sollten wir uns darüber aber bewußt Gedanken machen, zumal es auf Grund der andauernden Musikausübung in definierten Spielhaltungen logischerweise zu entsprechenden körperlich manifestierten Symptomen kommen kann - von Verspannungen bis zu bleibenden Schäden. Diese körperlichen Manifestationen beeinflussen wiederum den Spielprozeß, z.B. in Form von mangelnder Geläufigkeit bedingt durch muskuläre Verspannungen, und haben so auch Auswirkungen auf unsere Spiel- und Interpretationsfähigkeit.

Der gestaltende Musiker wird also u.U. durch das Instrumentalspiel und sein Instrument ‘gestaltet’, d.h. geformt, teils bis hin zur ‘physischen Deformation’ und - schlimmstenfalls - bis zur Berufsunfähigkeit. So schließt sich hier ein Kreis, dessen ganze Tragweite den meisten Musikern nicht bewußt ist.

Als Beispiele für ‘physische Deformationen’ seien hier genannt Tinnitus und Schwerhörigkeit bei Orchestermusikern, Halswirbelsäulensyndrom bei Streichern oder Symptome im Lendenwirbelbereich bei Gitarristen - von Rückenschmerzen bis hin zu Bandscheibenschäden.

Daß ‘musikalische Arbeit’ in der Öffentlichkeit - sozusagen auf dem Präsentierteller - bei Konzerten, Vorspielen, in Prüfungen, etc. Streß erzeugt, ist für alle Ausübenden durchaus normal und ihnen auch bewußt.

Weniger bewußt ist den Musikern im allgemeinen die Bedeutung der Atmung und des bewußten Einsatzes von Atemtechniken zur musikalischen Gestaltung und Verbesserung der Spieltechnik. Eine Ausnahme bilden hier naturgemäß Sänger und Bläser, da bei beiden die Tonerzeugung direkt von der Atmung abhängig ist.

Im Zusammenhang mit den aufgezeigten Themenbereichen bietet sich in der alten chinesischen Kunst des Qigong ein umfassendes und seit Jahrhunderten gereiftes und erprobtes Heilsystem, das Lösungsansätze für alle vorgenannten Teilbereiche einschließt, in das Instrumentalspiel integrierbar ist und darüber hinaus interessante neue Ansätze zur Lösung spieltechnischer Probleme bietet.

Qigong als Verfahren der ‘Traditionellen chinesischen Medizin’

Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) hat einen grundsätzlich völlig anderen Ansatz als die westliche Medizin. Sie ist dabei aber als eigenständiges System in sich genauso logisch, konsequent und systematisch - also wissenschaftlich - wie die westliche Medizin und dabei sehr erfolgreich.

Während der westliche Arzt auf Grund von Symptomen nach einer konkreten Krankheitsursache sucht, sieht der chinesische Arzt die vorliegenden Symptome als einen Teilaspekt dieses speziellen Patienten, der ein komplexes und einzigartiges physiologisches und psychologisches System mit Regelkreisen und Rückkoppelungen darstellt[1]. Dieses System versucht der chinesische Arzt regulierend in ein ‘individuelles’ Gleichgewicht zu bringen. T. Kaptchuk schreibt dazu: „Die chinesische Medizin ist deshalb eine holistische (ganzheitliche) Methode - begründet auf der Idee, daß jedes Element nur in seiner Relation zum Ganzen verstanden werden kann. ... Diese Medizin ist nicht weniger logisch als die westliche, sondern weniger analytisch.[2]"

Der Ansatz jeder Therapie in der TCM ist die Wiederherstellung des Gleichgewichts in dem komplexen System Mensch, einschließlich seiner Beziehungen zu seinem Umfeld - der Ausgleich zwischen Yin und Yang. Yin und Yang als „... komplementäre Gegensätze stellen weder Kräfte noch materielle Wesenheiten und auch keine mythischen Konzepte dar, ... [3]“. Nach J. C. Cooper symbolisiert das Yin-Yang „... jede paarweise Existenz, ..., doch kann man die beiden nicht als Gegebenheiten oder Einheit betrachten, sondern nur als Eigenschaften, die allen Dingen innewohnen.[4]“. G. Maciocia faßt die wichtigsten Punkte dieser Wechselbeziehung von Yin und Yang folgendermaßen zusammen:

  1. Wenngleich sie für gegensätzliche Stadien stehen, bilden Yin-Yang eine Einheit und ergänzen einander.
  2. Yang enthält den Keim für Yin und umgekehrt.
  3. Nichts ist gänzlich Yin oder gänzlich Yang.
  4. Yang wechselt in Yin über und umgekehrt [5]"

In der TCM wird zur Wiederherstellung des Gleichgewichts von Yin und Yang neben anderen Verfahren wie z.B. Akupunktur und Akupressur auch Qigong therapeutisch eingesetzt.

Qigong wird des öfteren etwas vereinfachend mit „Atemheilgymnastik“ übersetzt und ist präventiver Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin. Es verbindet Atmung, locker-fließende Bewegungen, Dehnungen, Konzentration auf verschiedene Meridiane[6] bzw. Akupunkturpunkte und Meditation zu einem ganzheitlichen und in den Grundzügen leicht erlernbaren Gesundheitssystem. Der Begriff Qigong bedeutet wörtlich übersetzt in etwa „Arbeiten am/mit Qi[7]“, wobei Qi mangels eines der umfassenden chinesischen Bedeutung adäquaten Wortes mit Energie, Atem bzw. Lebenskraft übersetzt wird. Maciocia definiert Qi als „... Energie, die sich gleichzeitig auf der physischen und auf der psychischen Ebene manifestiert.“ Er schreibt weiter: „Qi ist in einem konstanten Zustand des Flusses und in veränderlichen Zuständen der Aggregation.[8]

Nach der Theorie des Qigong ist die Voraussetzung für Gesundheit und Vitalität, daß das Qi durch alle Meridiane frei und ungehindert fließen kann. Voraussetzung für das ungehinderte Zirkulieren des Qi ist, daß sich alle Gelenke locker in ihrer natürlichen Position befinden, sich im Rahmen ihres natürlichen Bewegungspotentials frei bewegen können und der Gesamttonus in Muskulatur und Gewebe bei korrekter Körperhaltung so niedrig wie möglich ist. Fließt das Qi ungehindert, tritt u.a. eine erhöhte Sensibilität und Körperwahrnehmung ein, auf die auch G. Herrgott im Zusammenhang mit kinästhetischen Übungen hinweist[9].

Der Begründer der Bioenergetik, A. Lowen, bezeichnet diese ungehinderte Zirkulation als das „... Auf und Ab von Empfindung oder Energie im Körper, ...“ das wie ein großes Pendel dafür sorgt, „... daß das Leben sich leicht und mühelos bewegt.[10]“ und schreibt weiter: „Jedes Gebiet der Gespanntheit blockiert die Welle und entstellt die Wahrnehmung des Pulsierens.[11]

Einer der Ansatzpunkte zur Übertragung der Qigong-Übungen und -Prinzipien auf den Musikeralltag ist eines der Grundprinzipien des Qigong: der Atem folgt der Aufmerksamkeit und führt die Bewegungen.

Qigong in der instrumentalen Praxis

Beim ausübenden Musiker - egal ob Profi oder Laie - sind in der Spielpraxis vier grundlegende Themenbereiche von entscheidender Bedeutung:

  • Atem und musikalische Gestaltung
  • Streßprävention
  • muskuläre Spannungen und Spieltechnik
  • physische Belastungen durch die Spielhaltung

Diese vier Themenkomplexe sollen im folgenden unter dem Blickwinkel des Qigong näher untersucht werden.

Atem und musikalische Gestaltung

Atem und musikalischer Ausdruck sind untrennbar miteinander verbunden - der Atemstrom formt bzw. trägt die musikalische Bewegung und Entwicklung[12]. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Sänger und Bläser. Über den bewußten Atem ist es mit einiger Übung möglich, Puls- und Herzfrequenz zu regulieren. Atem-, Puls- und Herzfrequenz hängen voneinander ab und sind quasi das Bio-Metrum des Musikers - unser gesamtes Tempo- und Rhythmusempfinden bezieht sich auf diese Größen, da sie den Rhythmus und das Tempo, quasi den ‘Arbeitstakt’ der musizierenden ‘Bio-Maschine Mensch’ bestimmen. Der Versuch, mit rasendem Puls ein langsames Stück bewußt dolce und cantabile zu gestalten, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Atem fungiert darüber hinaus sowohl im Einzelspiel als auch im Ensemble als elementarer rhythmischer Einsatzimpuls und als Gestaltungsmittel für Übergänge, Tempowechsel, Abphrasierungen und Schlußwendungen - ja für die gesamte agogische Gestaltung eines Werkes. Für jeden Musiker sollte es selbstverständlich sein, mit der musikalischen Phrase zu atmen, also vor Beginn der Phrase ein-, und mit dem Spiel des musikalischen Bogens auszuatmen. Die musikalische Energie des Vortrags wird so erfahrungsgemäß um ein Vielfaches verstärkt und die musikalische Entwicklung entfaltet sich frei und natürlich.

Die Erklärung des Qigong für dieses Phänomen beruht auf der Tatsache, daß im Transformationsprozeß der in der Nahrung enthaltenen Energie zum Qi die Energie der Atemluft eine sehr große Rolle spielt. Die Energie Qi wird in Abhängigkeit vom Atemrhythmus im Körper bereitgestellt und dies wird über das Energieniveau unserer Bewegungen letztlich auch in der musikalischen Gestaltung hörbar. Auch A. Lowen weist auf die Bedeutung der Atmung bei energetischen Prozessen hin: „In der Atmung liegt das Geheimnis des Lebens, denn durch den Nahrungsstoffwechsel liefert sie die Energie, die die Lebensflamme speist.[13]

Durch Atemübungen im ‘stillen Qigong’werden einerseits Atmung als solche und andererseits die bewußte Steuerbarkeit der Atmung erfahrbar gemacht. Eine Grundübung sei hier kurz vorgestellt:

Der Übende liegt entspannt und gerade auf dem Rücken - möglichst auf einer Decke auf dem Boden. Die Arme liegen locker seitlich entlang des Körpers ausgestreckt, die Handinnenflächen sind nach unten gerichtet und Daumen und Zeigefinger formen entspannt einen Kreis. In dieser Haltung wird zunächst nur ganz entspannt durch die Nase ein- und ausgeatmet - die Zungenspitze ruht locker hinter den oberen Schneidezähnen am Gaumen. Nach und nach wird die Konzentration auf das Heben und Senken der Bauchdecke beim Ein- und Ausströmenlassen der Atemluft gerichtet. Eventuell können am Anfang beide Hände übereinander auf den Bauch gelegt werden, die Daumenballen liegen dabei auf dem Bauchnabel - dies erleichtert die Konzentration auf die Bewegung der Bauchdecke. Ziel der Übung ist die tiefe Bauchatmung, d.h. die Lunge füllt und leert sich von unten nach oben.

Durch Visualisierungen, wie Ein- und Ausströmenlassen, den Atem bewußt durch Nase und Kopf an der Wirbelsäule entlang nach unten bis in das Becken ein- und an Bauchdecke, Brustbein und Halsvorderseite entlang nach oben durch die Nase ausströmenlassen, kann die Übung entscheidend intensiviert werden. Um eine Hyperventilation zu vermeiden, muß immer die Ausatmung betont werden. Sollten während des Übens Probleme auftreten (Abfallen des Blutdrucks, allgemeines Unwohlsein, etc.), werden die Hände wie oben beschrieben auf den Bauch gelegt. Gegebenenfalls wird die Übung damit beendet und wieder ganz natürlich weitergeatmet. Bei länger andauernder Übung mit Visualisierungen sollte der Beckenboden leicht angespannt werden, um den Meridianpunkt Huyin[14] zu schließen und so Energieverlust zu vermeiden. Wird diese Atemübung mit Visualisierung sicher beherrscht, kann sie auch als Spielvorbereitung in der Instrumentalhaltung durchgeführt werden.

Streßprävention

Die nervliche Anspannung, der Streß vor und während des musikalischen Vortrags, egal ob Schülervorspiel, Prüfung oder öffentliches Konzert, ist immens. Der Faktor Streß zerfällt zunächst in zwei Teilbereiche - psychischen und physischen Streß -, die sich gegenseitig beeinflussen und zum Teil sogar bedingen, hier aber trotzdem einmal getrennt dargestellt und betrachtet werden sollen.

Im psychologischen Bereich spielen Erwartungshaltungen - eigene und die anderer (Publikum, Arbeitgeber, etc.) -, daraus resultierernder Erfolgsdruck, aber auch Rahmenbedingungen (Räumlichkeiten, eigene Fitneß, etc.) und die individuelle psychische Disposition des Einzelnen eine sehr große Rolle.

Im physiologischen Bereich handelt es sich gewissermaßen um das Flucht- oder Kampfprogramm, das wir evolutionsbedingt von unseren Vorfahren geerbt haben. Dies sind instinktive Verhaltensweisen, die je nach unserer Einschätzung der Situation mehr oder weniger zum Tragen kommen und sich unserer direkten willentlichen Beeinflussung entziehen. In bedrohlichen Situationen - vor Urzeiten der Angriff eines Tigers auf einen unserer Vorfahren, heute vielleicht ein Vorspiel, Konzert, etc. - schüttet unser Körper auf Grund dieses uralten Überlebensprogrammes das Streßhormon Adrenalin aus. Die Aufgabe des Adrenalins ist es, eine bessere Energieversorgung der Muskeln sicherzustellen, die Sinneswahmehmung zu verbessern, etc., um den Körper auf die bevorstehende physische Höchstleistung vorzubereiten. Der Körper reagiert entsprechend: Herz-, Puls-, Atemfrequenz und damit auch der Blutdruck steigen (Hitzeempfindungen und Schweißausbrüche inbegriffen), der Muskeltonus steigt (Kloß im Hals, kalte Hände wegen schlechterer Durchblutung), das Blut wird aus dem Magen abgezogen (Übelkeit), und man sieht und hört bis zum Programmrascheln in der letzten Reihe des Saals. Da das biologische System aber nicht damit rechnet, daß der ‘kampfbereite’ Musiker nun seinen Platz vor dem Publikum einnimmt und ‘lediglich’ feinmotorische und geistige Höchstleistungen vollbringen soll, bleibt der Körper je nach individueller Disposition mehr oder weniger in Alarmbereitschaft. Die Grobmuskulatur, die für ‘Kraftakte’ zuständig ist, bleibt bestens versorgt und ‘vorgespannt’ und die Feinmotorik mehr oder weniger behindert. Im Extrem­fall führt dies über Atemprobleme und Händezittern bis hin zur völligen feinmotorischen Blockade.

Betrachtet man Streß unter dem Aspekt der Yin-Yang-Theorie, so ergibt sich folgendes Bild:

Yin Yang
leer voll
unten oben
innen außen
Körper Geist
kalt heiß
langsam schnell (Puls, Atmung, Herzschlag)
niedrig hoch (Blutdruck)
locker fest (Muskeln, Gewebe, Gelenke)
weich hart (Muskeln, Gewebe, Gelenke)
beweglich steif (Muskeln, Gewebe, Gelenke)
Entspannung Anspannung
Ruhe Aktivität

Sind Yin und Yang im Gleichgewicht, herrscht Ruhe - überwiegt Yang oder ist Yin zu schwach, herrscht psychischer und/oder physischer Streß.

Wenn man in Betracht zieht, daß Atem-, Herz- und Pulsfrequenz synchron laufen, ergibt sich allein durch die im vorherigen Kapitel beschriebene Visualisierung der Atmung eine Verlangsamung der Atmung und damit des gesamten Biorhythmus und eine Konzentrationsänderung von außen (Publikum, etc.) nach innen (Atmung) - eine zweifache Änderung vom Yang zum Yin, vom Streß hin zur Ruhe und Gelassenheit.

Fortgeschrittener, aber auch wesentlich effektiver, ist der sogenannte große Atemkreislauf. Beginnen sollte man mit dieser Übung allerdings erst, wenn die Bauchatmung beherrscht wird. Einleitend wird die im vorigen Kapitel erklärte Übung ausgeführt - entspannte Rückenlage, Zunge ruht entspannt hinter den oberen Schneidezähnen, Beckenboden leicht angespannt, Atmung wie beschrieben durch Visualisierung steuern. Nun wird als nächster Schritt beim Einatmen die Aufmerksamkeit von dem Punkt Yongchuan[15] im Vorfuß über die Innenseite der Beine und an der Wirbelsäule entlang nach oben bis zum Scheitelpunkt Baihui geführt. Beim Ausatmen verläuft der Konzentrationsverlauf über die Mittellinie von Stirn - Gesicht - Hals - Brust - Bauch und die Rückseite der Beine hinunter zurück zu dem Punkt Yongchuan.

Die Atmung sollte immer locker und ungezwungen sein - eventuell den gesamten Konzentrationsverlauf auf mehrere Atemzüge verteilen. Die Ausatmung wird betont ausgeführt - dies ist besonders bei Bluthochdruck wichtig. Bei sehr niedrigem Blutdruck sollte die Einatmung bewußt und kontrolliert betont werden. Treten während des Übens Kopfschmerzen auf, wird das Einatmen nur bis zur Brusthöhe betont ausgeführt.

Wird die Übung im Liegen beherrscht, kann sie auch im Stehen ausgeführt werden. Dazu wird die Qigong-Grundhaltung im Stehen eingenommen, d. h. die Füße stehen schulterbreit - Außenkanten parallel, die Knie sind leicht gebeugt und die Leisten bewußt entspannt. Die Wirbelsäule wird bewußt gerade aufgerichtet, und der Scheitel wie von einem Faden nach oben gezogen. Man steht, als säße man mit gerade aufgerichtetem Oberkörper auf der Vorderkante eines hohen Hockers. Die Arme hängen locker seitlich herab - Handflächen zum Körper gedreht - und das Kinn ist etwas eingezogen. A. Lowen beschreibt diese Körperhaltung als grundlegende „Erdungsübung“ und schreibt dazu: „Wer so geerdet ist, hat das Gefühl, die feste Unterstützung der Erde unter sich zu haben, ... Geerdet bedeutet, mit der Realität in Berührung zu sein.[16]

In dieser Haltung wird nun Atmung und Konzentrationsverlauf wie oben beschrieben ausgeführt. Ist die Verbindung von korrektem Stand und Atemübung einmal verinnerlicht, kann diese Übung auf jede beliebige Instrumentalhaltung im Sitzen oder Stehen übertragen und somit in den alltäglichen Spiel- und Übeprozeß integriert werden.

Bei der vereinfachten Variante dieser Atemübungen konzentriert man sich nur auf Yongchuan und atmet quasi durch diesen Punkt ein und aus.

Noch einmal eine kurze theoretische Ergänzung zur Streßkompensation mit Qigong-Atemtechniken, um die Funktionsweise deutlicher zu machen: Wo der Geist (das Bewußtsein) Shen ist, ist Qi, denn „...der Geist ist der Meister des Qi.[17] “Ist der Geist außen (beim Publikum, zerstreut), ist auch das Qi - die Energie - außen, also nicht konzentriert und nicht nutzbar. Ist der Geist Shen in den Körper gerichtet, so ist das Qi im Körper und ist Shen auf den Kopf gerichtet, steigt das Qi dorthin. Die Folgen sind Unkonzentriertheit und ein Abschweifen der Gedanken, eine Art ‘innere Talkshow’, da Shen ausschließlich auf die geistigen Vorgänge gerichtet ist, und diese daher, mit einem Übermaß der Energie Qi versorgt, ein schwer kontrollierbares ‘Eigenleben’ entwickeln. Das Qi muß dorthin, wo während des Instrumentalspiels die Energie benötigt wird - es muß also in den Körper abgesenkt werden. Das Yang-Qi (Aktivität) wird daher beim Ausatmen über den Konzentrationsverlauf an der Körpervorderseite und der Rückseite der Beine entlang nach unten gebracht. Beim Einatmen wird Yin-Qi (Ruhe) auf der Innenseite der Beine und der Körperrückseite nach oben geholt, um den Yang-Überschuß auszugleichen. Die streßbedingte Kopflastigkeit wird so ausgeglichen, der Energiefluß wiederhergestellt und eine optimale Ausgangssituation für das Vorspielen erreicht.

Neben der beschriebenen Atemübung eignet sich eine weitere Grundübung des Qigong hervorragend zur Streßprävention: die Technik des ‘Inneren Lächelns’. Streß manifestiert sich häufig in Verspannungen der Gesichts- und Nackenmuskulatur - wir ‘beißen die Zähne zusammen’ und ‘ziehen den Kopf ein’. ‘Inneres Lächeln’ bedeutet eigentlich nur, sich selbst innerlich und äußerlich wohlwollend zuzulächeln. Dies entspannt nicht nur die sogenannte periorale Muskulatur, sondern auch die benachbarte Gesichts-, Kopf-, Nacken- und Halsmuskulatur. Neben einer besseren Durchblutung der genannten Muskelpartien und der damit verbundenen Lockerung und Entspannung in diesen Bereichen wird auch die gesamte Schädelbasis mit allen vegetativen Hirnzentren besser durchblutet und mit Sauerstoff versorgt[18]. So werden einerseits durch die Entspannung die Beweglichkeit und ‘Spielfähigkeit’ positiv beeinflußt und andererseits werden Atmung, Stoffwechsel und auch seelische Vorgänge über die Anregung des vegetativen Systems stimuliert. Beides führt zum Abbau von Streß und den damit verbundenen Symptomen. A. Lowen weist im übrigen darauf hin, daß Verspannungen in den vorgenannten Bereichen „der Luft den Durchgang“ abschnüren und so die Sauerstoffaufnahme und das Energieniveau herabsetzen. Ein vermindertes Energieniveau bedeutet aber auch verminderte Spielfähigkeit und führt so zu vermehrtem Streß. Im Zusammenhang mit Verspannungen an der Schädelbasis schreibt er von einer „... Schicht, die den Fluß des Empfindens vom Körper in den Kopf blockiert.[19] “Ohne ‘Empfindung’ sind bewußte und ‘gefühlvolle’ Bewegungen nicht möglich. Dies hat notwendigerweise entsprechend negative Auswirkungen auf Spielfluß und Interpretation zur Folge.

Das ‘Innere Lächeln’ hat gerade in Konzert- und Vorspielsituationen einen positiven Nebeneffekt. Ein freundlich lächelnder Mensch wird immer wohlwollender aufgenommen und beurteilt als jemand mit verbissenem oder angestrengtem Gesichtsausdruck. Dies kann erheblich zur Entspannung und Entkrampfung der Situation beitragen und so quasi ‘von außen’ Streß abbauen. Allerdings entspricht diese Technik einer inneren Grundhaltung, die regelmäßig geübt und verinnerlicht werden sollte, z.B. beim täglichen Üben gerade auch bei schwierigen Stellen.

Muskuläre  Spannungen und Spieltechnik

Muskuläre Spannungen und ihre Auswirkungen auf den Bewegungsfluß beim Instrumentalspiel sind hinlänglich bekannt[20] - Lockerheit ist die Voraussetzung für eine souveräne Spieltechnik. Andererseits kann schon eine geringfügige, unter Umständen auch örtlich begrenzte Steigerung des Muskeltonus verkrampftes und unkoordiniertes Spiel verursachen. Dies gilt bei der Spieltechnik der Gitarre selbstverständlich für beide Hände.

Im Bereich der Spieltechnik der linken Hand sollen die Stichworte Akkordwechsel - schnelles Melodiespiel - Lagenwechsel - Überstreckungen jedweder Art genügen.

Betrachtet man die rechte Hand, dürfen neben der reinen Geläufigkeit natürlich Tonkontrolle, Klangregister und jede Form der Artikulation nicht vergessen werden. Letztlich entscheidet die rechte Hand über die tonlichen Qualitäten der Musik, und der Ton in seiner musikalisch-ästhetischen Substanz erschließt oder verschließt dem Zuhörer das gespielte Werk..

Auch das Zusammenspiel beider Hände - die Koordination zwischen rechts und links - und damit das musikalische Legatospiel ist, wie oben schon erwähnt, in hohem Maß vom Muskeltonus abhängig.

In unbewegtem Zustand sind die Finger leicht nach innen gekrümmt, die Muskeln - Beuger und Strecker - befinden sich in einem ‘Spannungsgleichgewicht’, der ‘Ruhespannung’  oder ‘Vorspannung’. Ein weiteres Krümmen eines Gelenkes erfordert entweder eine höhere Anspannung des betreffenden Beugers, eine höhere Entspannung - also Dehnung - des Streckers oder eine Kombination aus beiden muskulären Prozessen.

Alle drei Bewegungsansätze sind bei geringerer ‘Vorspannung’ leichter zu realisieren. Dies führt zu schnelleren, präziseren Bewegungen, die auch exakter ‘getimed’ und damit besser koordiniert werden können.

Wie im Kapitel über Qigong als Verfahren der TCM dargelegt, ist eines der grundlegenden Ziele des Qigong die Minimierung des Gesamttonus, der ‘Vorspannung’ der Muskulatur bei korrekter Körperhaltung und freier Beweglichkeit der Gelenke. Das Bewegungsprinzip des Qigong zur Erreichung dieser Zielsetzung - der bewußte Atem trägt den weichen Fluß der Bewegungen - kann aber das Bindeglied Atmung in das Instrumentalspiel übertragen werden. Dies ist gerade bei spieltechnischen Problemstellen, z.B. Dehnungen im Grenzbereich des anatomisch Möglichen, sehr gut anwendbar und führt nach meiner Erfahrung zu einer wesentlich entspannteren Bewältigung derartiger Passagen.

Bevor wir die Anwendung an konkreten spieltechnischen Beispielen betrachten, sollen einige Grundübungen des Qigong zu diesem Thema erläutert werden. Hier eignet sich vor allem die Übung des ‘Fingerat­mens’[21], die jeden einzelnen Finger bewußt anspricht. Diese Übung kann in etwas vereinfachter Form in die Spielhaltung übertragen werden: In der normalen Spielhaltung sitzend, beide Arme und Hände locker seitlich am Körper hängen lassen und ‘durch die Finger’ wie folgt ein- und ausatmen: Beide Daumen leicht krümmen - einatmen, entspannen und durch die Daumen ausatmen; beide Zeigefinger leicht krümmen - einatmen, entspannen und durch Daumen und Zeigefinger ausatmen; usw.

Die Konzentration liegt beim Einatmen immer bei einem Fingerpaar, beim Ausatmen bei allen schon ‘geatmeten’ Fingerpaaren. Visualisiert wird die Vorstellung von ‘Luftschläuchen’, die in dem jeweiligen Finger beginnen bzw. enden und sie mit der Lunge verbinden - es wird in der Vorstellung quasi durch den/die Finger ein- bzw. ausgeatmet.

In den konkreten spieltechnischen Anwendungen bedeutet einatmen immer die Vorbereitung und ausatmen die Umsetzung der Bewegung. Einatmen heißt Energie (Luft) aufnehmen und führt über die Ausdehnung der Lunge zur Dehnung des Oberkörpers und damit zu einer erhöhten ‘Vorspannung’ im Muskelgewebe. Ausatmen entspricht also der Entspannung, dem ‘Zusammensinken’. Da Bewegungen - wie oben dargelegt - bei geringerer ‘Vorspannung’ lockerer zu realisieren sind, wird konsequenterweise im Ausatmen geübt und gespielt. Das Heben des Fingers (ausholen/vorbereiten) wird mit dem Einatmen, das Senken (greifen/anschlagen) mit dem Ausatmen verbunden. Als Ausnahmen seien hier z.B. Abzugsbindungen genannt: einatmen = wahrnehmen des gegriffenen Fingers, ausatmen = abziehen.

Eine sehr klare Übertragung dieser Bewegungsprinzipien ergibt sich z.B. bei spieltechnischen Übungen, wie Nr. 16 (Aufschlagsbindung) und Nr. 21 (Abzugsbindung) aus F. Tarregas ‘Technischen Studien’[22].

Abb. 1: Beispiele  aus F. Tarregas ‘Technischen Studien’ Nr. 16 (Aufschlagsbindung) und Nr. 21 (Abzugsbindung)

Auch Bindeübungen und Akkordanschlagsübungen aus R. Iznaolas ‘Kitharologus’[23] oder Akkordzerlegungsstudien von A. Carlevaro[24] können beispielhaft herangezogen werden.

Bei Dehnungen bzw. Überstreckungen entspricht das Einatmen dem bewußten Fühlen bzw. Wahrnehmen der zu bewegenden Finger, das Ausatmen der Dehnung. Als Beispiel sei hier auf die Dehnübungen in R. Iznaolas ‘Kitharologus’ verwiesen (z.B. Nr.98).

Abb. 2: Dehnübungen in R. Iznaolas ‘Kitharologus’

Der Transfer des Qigong-Prinzips ‘Atem führt Bewegung’  ist bei den genannten Beispielen, unabhängig von der spieltechnischen Schwierigkeit, relativ einfach umzusetzen, da es sich um Übungen mit gleichbleibenden Bewegungsabläufen der linken oder rechten Hand handelt.

Die Aufmerksamkeit bleibt also bei einer Hand und es verbleibt genügend Konzentration für den bewußten Einsatz der Atemtechnik. Selbstverständlich können auch andere ‘einseitige’ Übungen herangezogen werden.

Als Beispiele von Dehnungen aus der Vortragsliteratur seien hier noch Ausschnitte aus J. S. Bachs Präludium d-Moll, BWV 999 und F. Sors Sonate op 25 erwähnt. In dem Präludium von Bach muß in Takt 15 der Ton f im Baß auf der 6. Saite mit dem 1. Finger gehalten werden, während der kleine Finger einen Barré über 1, 2. und 3. Saite im 5. Bund greift. Es sollte vor dem Takt ein- und in die Dehnung hinein ausgeatmet werden.

Abb. 3: J. S. Bach, Präludium d-Moll, BWV 999, Takt 15

Im ersten Satz ‘Andante’ der Sonate op 25 von Sor erscheint in Takt 29/30 eine Figur, in der der 1. Finger im 3. Bund als Barré liegt, der 3. Finger den Ton a auf der 4  Saite spielen muß und im Takt 30 der 4. Finger die Tonfolge es-e-f auf der 5. Saite abgreifen muß. Auch diese Überstreckung ist im Ausatmen wesentlich leichter zu bewältigen.

Abb. 4: F. Sor, Sonate op 25, Takt 29/30

Einige der Qigong-Übungen - wie z.B. spezielle Handgelenks- und Fingerdehnungen oder die 6 Übungen der Armmeridiane eignen sich zudem hervorragend als ‘Aufwärmübungen' zur Spielvorbereitung. Speziell die Übungen der Armmeridiane wirken sehr entspannend und sensibilisierend im Hand-, Arm-, Schulter- bzw. Brust- und Nackenbereich, da diese Meridiane in den einzelnen Fingern beginnen bzw. enden und im Verlauf über Armvorder- bzw. -rückseite und Schultern die Kopf­ bzw. Brustregion erschließen. Diese Übungen regen speziell in den Armmeridianen den Fluß des Qi an und führen so zu einer erheblichen Entspannung und Sensibilisierung in diesen gerade für Musiker wichtigen Bereichen.

Physische Belastung durch die Spielhaltung

Die Belastung des Bewegungsapparates durch die zum Teil asymmetrische Spiel- bzw. Instrumentalhaltung kann, je nach Instrument, sehr hoch sein. Qigong kann umfassend zur Kompensation einseitiger Belastungen und damit zur Prävention von Folgeschäden eingesetzt werden, wie im folgenden an einem Beispiel dargelegt werden soll.

Die menschliche Anatomie ist grundsätzlich symmetrisch angelegt - sowohl im Bezug auf die Strukturen (2 Arme, 2 Beine, etc.) als auch im Bezug auf die Bewegungsrichtungen (Bewegung und Gegenbewegung, Muskel und Antagonist - z.B. Bizeps und Trizeps). Diese Feststellung ist zwar trivial, wird aber im alltäglichen Leben und gerade auch im Bereich der Instrumentalhaltung geflissentlich ignoriert - teils aus Bequemlichkeit, teils aus spieltechnischer Notwendigkeit. Der Schluß, der aus dieser scheinbar banalen Feststellung gezogen werden muß, heißt aber: jede länger andauernde, einseitige Belastung des Bewegungsapparates durch statische Körperhaltung ist systemfremd und damit mehr oder weniger gesundheitsschädlich. Stereotype Bewegungsvorgänge bewirken „... eine permanente Verkürzung der Muskel-Sehnenkette ...“ konstatiert G. Schnack in seinem Buch ‘Gesund und entspannt musizieren’, und weiter heißt es, daß „... jedes Instrument eine jeweils typische Muskulatur beansprucht.[25]

Qigong beinhaltet eine sehr große Vielfalt an Körperübungen, um das oben bereits unter der Überschrift ‘Qigong als Verfahren der TCM’ beschriebene Ziel einer möglichst lockeren und natürlichen Körperhaltung zu erreichen. Das Repertoire reicht von einfachen Dehnübungen bis zu komplexen Bewegungsabläufen, wie z.B. die Bewegungszyklen Hexiangzhuang oder Bafanhuangong. Allen Übungen ist das unter dem Kapitel ‘Qigong als Verfahren der TCM’ genannte Grundprinzip ‘Aufmerksamkeit - Atem - Bewegung’ gemeinsam. Diese Übungen eignen sich sehr gut und gezielt zur Haltungskorrektur bzw. zum Ausgleich einseitiger Belastungen, und es kann aus dem reichhaltigen Übungsrepertoire ein auf die jeweils vorliegende individuelle Belastungssituation genau abgestimmtes Übungsprogramm erstellt werden.

Als Beispiel sei hier kurz eine einfache Grundübung - ‘Qi heben und senken’ - näher betrachtet: Zunächst wird die Grundhaltung im Stehen, wie unter dem Punkt ‘Streßprävention’ beschrieben, eingenommen: Füße schulterbreit parallel, Knie leicht gebeugt, Leisten bewußt entspannt, Wirbelsäule aufgerichtet und Scheitel wie von einem Faden nach oben gezogen. Die Arme hängen locker seitlich herab - Handflächen zum Körper gedreht - und das Kinn ist etwas eingezogen. Ist die korrekte Haltung eingenommen worden, wird durch bewußtes Anspannen und Entspannen eine ‘Spannungswelle’ im Körper erzeugt. Zuerst werden die Füße etwas angespannt (mit den Zehen in den Boden ‘krallen’), dann steigt die Spannungswelle über Unterschenkel, Knie (etwas strecken), Beckenboden, Wirbelsäule (strecken) bis zum Scheitel. Die Entspannung erfolgt in umgekehrter Reihenfolge von oben nach unten zurück zu den Füßen. Dieses bewußte Anspannen und Entspannen erfolgt synchron mit der unter dem Kapitel ‘Streßprävention’ beschriebenen Kreislaufatmung. Mit dem Einatmen steigen Spannungs- und Konzentrationsverlauf, in den Füßen beginnend, nach oben bis zum Scheitel, mit dem Ausatmen sinken Entspannungs- und Konzentrationsverlauf vom Scheitel zurück zu den Füßen.

Angemerkt sei hier, daß die beschriebene Verbindung von Atmung, Konzentration und Spannungswelle auf die Spielhaltung im Stehen bzw. Sitzen übertragen werden kann, sobald sie sicher verinnerlicht ist. Durch den kontinuierlichen Wechsel zwischen An- und Entspannung wird eine statisch-ermüdende Belastung der Muskulatur vermieden und auch der Rücktransport des Blutes aus den Venen der Beine unterstützt (Muskelpumpe).

Wird diese Übung im Stehen sicher beherrscht, kann sie mit dem eigentlichen ‘Qi heben und senken’ der Arme verbunden werden. Mit dem Steigen der Spannungswelle und der Kreislaufatmung werden die Arme locker seitlich vom Körper gehoben (Handflächen zeigen nach oben) bis sich die Fingerspitzen über dem Kopf fast berühren (Handflächen nach unten). Diese Position ist erreicht, wenn der Spannungs- und Konzentrationsverlauf im Scheitel angekommen ist.

Mit dem Sinken von Spannungswelle und Kreislaufatmung sinken auch die Hände vor dem Körper nach unten (Handflächen nach unten) und zurück zur Seite in die Ausgangsposition (Handflächen zum Körper), und erreichen diese mit dem Ende von Spannungswelle und Konzentrationsverlauf in den Füßen.

Diese Übung kann mehrmals wiederholt werden, sollte aber immer mit einer Abschlußübung beendet werden, z.B. mit der Übung ‘Kreisen um Dantian’. Dazu werden die Hände mit den Handflächen übereinander auf den Unterbauch gelegt, der Daumenballen der unteren Hand liegt auf dem Bauchnabel. Bei Frauen liegt die rechte Hand am Körper, bei Männern die linke. In dieser Stellung einige Male langsam und tief atmen, dann in Richtung des außenliegenden Daumens nach unten kreisend beginnen und 9 größer werdende Kreise bis zu den Rippenbögen beschreiben. Anschließend folgen 6 kleiner werdende Kreise in entgegengesetzter Richtung zurück zur Ausgangsposition. Mit einigen ruhigen Atemzügen ist diese Übung beendet.

Schon am Beispiel dieser einfachen Grundübung ist deutlich erkennbar, daß bei Qigong-Übungen immer der ganze Körper einbezogen ist. Durch die Aufrichtung der Wirbelsäule wird speziell der Lendenwirbelbereich und die Halswirbelsäule gedehnt und entlastet, die seitliche Armbewegung dehnt die Brustmuskulatur und korrigiert die Haltung im Schulterbereich. Der Anspannung in der aufwärtsgerichteten Bewegung folgt die bewußte Entspannung im Sinkenlassen (hier können z.B. ganz bewußt die Schultern entspannt werden), dem außen Steigen der Arme folgt das innen Sinken der Arme, der Bewegung folgt die Gegenbewegung - dem Yang folgt das Yin. Dies ist einer der Hauptgründe, warum meiner Erfahrung nach Qigong zur Korrektur und Kompensation einseitiger körperlicher Belastungen so hervorragend geeignet ist. Der ganzheitliche positive Effekt ist eine regulierende Wirkung auf den Qi-Kreislauf und damit auch auf Atmung, Herz und Kreislauf.

Wu Wei - Tun durch Nicht-tun

In den vorherigen Kapiteln habe ich vier verschiedene Ansatzpunkte zur Übertragung von Qigong-Prinzipien auf den Bereich des Instrumentalspiels dargelegt und anhand von Beispielen erläutert. Qigong als ganzheitlichem Verfahren ist diese ‘Aufteilung’ in ‘Anwendungsgebiete’ jedoch eigentlich völlig wesensfremd. Diese vier Bereiche, die ich zum besseren Verständnis getrennt betrachtet und erläutert habe, sollen daher nun wieder zur eigentlichen Einheit zusammengeführt werden.

Unter der Überschrift ‘Atem und musikalische Gestaltung’ habe ich eine Atemübung mit Visualisierung beschrieben, die um den Konzentrationsverlauf erweitert als ‘Streßprävention’ und ergänzt durch eine einfache Armbewegung im Kapitel ‘Physische Belastung durch Spielhaltung’ als grundlegende Körperübung ‘Qi heben und senken’ vorgestellt wurde. Durch das schrittweise Zusammenfügen der einzelnen Übungselemente wurde an der Übung ‘Qi heben und senken’ systematisch und stellvertretend für alle anderen ‘bewegten’ Qigong-Übungen dargelegt, daß jede Übung aus dem Qigong die drei Bereiche Atmung, Konzentration und Bewegung enthält und daher die in den oben genannten Kapiteln beschriebenen ‘Anwendungsgebiete’ umfassend abdeckt. Eine grundsätzliche Ausnahme bilden hier nur die Übung des ‘stillen Qigong’[26], da es sich hierbei um Übungen ohne Bewegungen handelt.

Unter der Überschrift ‘Muskuläre Spannungen und Spieltechnik’ habe ich kurz dargelegt, wie unter Anwendung der Qigong-Prinzipien aus einer zu übenden Stelle eine Qigong-Übung gemacht werden kann. Mit diesem Ansatz können alle positiven Auswirkungen der Qigong­Prinzipien in das Üben und Spielen übertragen werden.

Ziel aller Qigong-Übungen ist es, Körper und Geist auf Eines auszurichten, zur „Einspitzigkeit[27]“zu gelangen.

Dieses Einswerden mit sich selbst, die Vereinigung von Körper, Gedanken und Emotionen in einer Bewegung, führt zu Wu Wei, dem ‘Tun durch Nicht-tun’. J.C. Cooper beschreibt Wu Wei als „... ein Handeln, das so ungezwungen und natürlich ist, daß es die gewöhnliche Bedeutung von Handeln mit seinem dazugehörigen Überlegen und Abwägen verliert, und das so in völliger Harmonie mit der Natur ist, daß es einfach nur ist, ohne daß man darüber nachdenken muß.“Es wird also das völlige Einswerden des Übenden mit der von ihm ausgeführten Übung angestrebt.

Gerade dieses Einssein mit sich selbst und dem, was man gerade tut (dem Stück, das man gerade spielt - musikalisch und spieltechnisch) ist für jeden Musiker die Voraussetzung für eine überzeugende Interpretation und gleichzeitig der beste Lösungsansatz für Streß- und Verspannungsprobleme. Gedanken und Gefühle sind nach innen und auf die Musik gerichtet und dort gebunden, die Bewegungen verlaufen im Rahmen der anatomischen Möglichkeiten harmonisch, rund und weich fließend von ‘innen’ nach ‘außen’ und eine statische Haltung (Verkrampfung) wird durch den Bewegungsfluß des ganzen Körpers von vornherein vermieden. So werden der Musiker und die von ihm interpretierte Musik Teil eines umfassenden Konzeptes von Wu Wei - ist der Interpret eins mit sich selbst, kann er eins werden mit der Musik:

 

PSYCHE

Yin - Yang
entspannt

 

MUSIK

Klang
Interpretation

 

PHYSIS

Spielhaltung/Atem
Entspannung

 

SPIELTECHNIK

locker/fließend
Tonqualität

 

Schlußbemerkung

Angemerkt sei hier zunächst noch, daß es hinreichend Literatur über Qigong-Übungen gibt - von einfachen Übungen bis hin zu den schon erwähnten komplexen Bewegungszyklen. Diese kann zwar keinesfalls die kompetente persönliche Anleitung durch einen erfahrenen Lehrer ersetzen, aber es lassen sich darin durchaus wichtige und wertvolle Anregungen und Hilfestellungen finden. Die beschriebenen Atemübungen sollten sehr vorsichtig, kontrolliert und möglichst nur unter kompetenter Anleitung oder mit entsprechenden Vorkenntnissen ausgeführt werden. Die bei der ersten unter der Überschrift ‘Atem und musikalische Gestaltung’ beschriebenen Atemübung vermerkten Hinweise zu eventuell auftretenden Problemen gelten selbstverständlich auch für alle folgenden Atemübungen.

Es ergeben sich - wie oben ansatzweise dargestellt - unzählige An­satzpunkte, Qigong-Übungen und -Techniken sinnvoll und effizient mit dem Instrumentalspiel zu verbinden. Mit dem richtigen Ansatz und unter kompetenter Anleitung können die positiven Auswirkungen des Qigong auf Atmung (= musikalische Gestaltung und Streßprävention), Entspannung (= freier Bewegungsfluß, Sensibilisierung und Verbesse­rung der Spieltechnik) und Haltungskorrektur (= Ausgleich der physi­schen Belastung durch die Spielhaltung) miteinander verbunden werden und im Idealfall zu Wu Wei, dem Tun durch Nicht-tun, führen. Die übertragung der Qigong-Verfahren und -Prinzipien in den Musikeralltag kann jedoch nur gelingen, wenn die funktionellen anatomischen Grundlagen und Zusammenhänge des Instrumentalspiels hinreichend be­kannt und in der Spielpraxis erprobt sind. Selbstverständlich läßt sich das oben an der Spieltechnik der Konzertgitarre exemplarisch Dar­gestellte auch für alle anderen Instrumente modifizieren und auf diese übertragen.

Die Effizienz des Übens kann erheblich gesteigert werden und Haltungsproble­matiken können im Ansatz wirkungsvoll behoben bzw. kompensiert werden. Qigong ist somit eine wertvolle Ergänzung zum Üben und Spielen, denn „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ (Schopenhauer)



[1] Vgl.: T. Kaptchuk, Das große Buch der chinesischen Medizin, München, 1997, S. 14 ff.

[2] ebenda, S. 18.

[3] ebenda, S. 19.

[4] J.C. Cooper, Der Weg des Tao, Bern München Wien, 1977, S. 33.

[5] G. Maciocia, Die Grundlagen der Chinesischen Medizin, Kötzting, 1994, 1997, S. 5.

[6] Leit- oder Energiebahnen, vgl. G. Wenzel, Qigong - Quelle der Lebenskraft, Bad Sauerbrunn, 1996, S. 163.

[7] ebenda, S. 311.

[8] G. Maciocia, Die Grundlagen der Chinesischen Medizin, S. 41.

[9] Vgl.: G. Herrgott, Die Topologie der Spannung, Teil 2, Üben und Musizieren 1/93, S. 24.

[10] A. Lowen, Depression, München, 1978, S. 54.

[11] ebenda, S. 56.

[12] Vgl.: W. Rüdiger, Atem und Ausdruck im Instrumentalunterricht, Üben und Musizieren 4/93.

[13] A. Lowen, Depression, S. 56.

[14] Huyin = Yin-Punkt, liegt im Damm.

[15] Yongchuan = ‘sprudelnde Quelle’ ist der Anfangspunkt des Nieren- meridians in der Mitte des vorderen Drittels der Fußsohle.

[16] A. Lowen, Depression, S. 48.

[17] G. Wenzel, Qigong - Quelle der Lebenskraft, S. 316.

[18] Vgl. ebenda, S. 321.

[19] A. Lowen, Depression, S. 57 f

[20] Vgl.: G. Herrgott, Die Topologie der Spannungen Teil 1 und 2, Üben und Musizieren 6/92 und 1/93.

[21] Vgl.: L.U. Schoefer, Qigong - Hilfen für den Alltag, Niedern­hausen/Ts., 1994, S. 38 f.

[22] K. Scheit, Francisco Tarrega - Sämtliche technischen Studien, Universal Edition, Wien.

[23] R. Iznaola, Kitharologus, Chanterelle, Heidelberg, 1993.

[24] A. Carlevaro, Seria Didactica para Guitarra - Cuaderno No 2, Buenos Aires.

[25] G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, Bärenreiter, Kassel, 1994, S. 130.

[26] Vgl. Kapitel ‘Atem und musikalische Gestaltung’

[27] G. Wenzel, Qigong - Quelle der Lebenskraft, S. 258 ff.